Abspecken auf dem Delta-Parcours

Nur so von Einfällen zum Thema Gesundheit strotzt Werner Janowicz (57), Physiotherapeut in Beerfelden: Vor vier Jahren kam ihm beim Reha-Training von Berufsunfall-Patienten die Idee, dass es zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in einem bestimmten Berufsbild unbedingt notwendig sei, den Genesenden bei der Aktivität in eben dem dazugehörenden, typischen Arbeitsumfeld zu beurteilen. So setzte Janowicz Baggerführer auf die Maschine, LKW-Fahrer auf den Bock und Dachdecker auf ein Dach - und da das in der realen Arbeitswelt auf Hindernisse stößt, alles das auf dem Freigelände hinter seiner Praxis in Beerfelden. Dieses Konzept stieß bei Berufsgenossenschaften auf Zustimmung, es wurde vielfach übernommen.

Doch Janowicz ist nicht nur umtriebig und erfindungsreich, er ist auch ebenso zielstrebig wie hartnäckig bei der Umsetzung seiner Ideen. So ärgerte ihn schon vor zehn Jahren der verwahrloste Zustand vieler jener Trimm-Dich-Pfade, die vor 40 Jahren in fast jeder westdeutschen Gemeinde angelegt wurden, die nur irgendwo einen grünen Flecken dafür lockermachen konnte. So auch Beerfelden im Odenwald.

Doch auf den meisten dieser der körperlichen Ertüchtigung gewidmeten Pfade sind die Hölzer, die man packen und herumschwenken sollte, längst ebenso verrottet wie die Hürden, über die man hüpfen, und die Bohlen, auf denen man Dehnübungen machen sollte. Etlichen dieser Übungseinrichtungen brauche man nicht hinterher zu weinen, sagt Janowicz - die zugehörigen Übungen hätten mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen können. Insbesondere, wenn die Übungen ,,aus dem Stand", also ohne Aufwärmen oder bis zum Exzess gemacht wurden. Schon 2001 wollte er daher auf dem alten Trimm-Dich-Pfad südlich von Beerfelden an der Straße nach Rothenberg ein neues Konzept verwirklichen. Nämlich das Delta-Prinzip von Gerhard Huber, der an der Heidelberger Universität als Professor Sportwissenschaft lehrt. Huber hat Bücher veröffentlicht über das von ihm entwickelte Konzept: Danach soll das weit verbreitete Problem Übergewicht, Ursache oder wenigstens Co-Faktor vieler Erkrankungen, angegangen werden - und zwar statt mit reiner Nahrungsreduktion (die meist doch nicht konsequent durchgehalten wird) durch verbesserte körperliche Aktivität. Das Delta - in der Physik als Kürzel zur Bezeichnung von Differenzwerten verwendet - steht hier für die Diskrepanz zwischen der Energieaufnahme (durch die Nahrung) und dem Energieverbrauch (durch Bewegung). Es geht darum, Bewegung wieder schätzen zu lernen, den Bewegungsumfang im Alltag - auch außerhalb von Trainingssituationen - zu erweitern. Das lässt sich lernen, lässt sich üben: ,,Bewegung in der Gruppe macht Freude, motiviert", betont Janowicz.

Trotz großer Plausibilität hatte die Stadt Beerfelden dem aussichtsreichen Projekt damals eine Absage erteilt - wegen Finanzknappheit. Doch der quirlige Physiotherapeut ließ nicht locker. Er holte Sponsoren ins Boot, unter örtlichen Unternehmern - keine Spende, keine Leistung war ihm zu gering (,,Jede Bohle hilft!"). Zwölf Bänke wird es geben und ein Dach, unter dem man Übungen machen oder auch nur wettergeschützt verschnaufen kann.

Der Therapeut gewann auch die Unterstützung der Gemeinde: Es galt, den alten Trimm-Pfad, durch viele Füße ausgetreten und verdichtet, auszukoffern und durch ein neues, breiteres Bett aus Hackschnitzeln wieder gangbar und zugleich auch bandscheibenfreundlich zu machen. Auch sollte die bestehende Strecke um eine zusätzliche Schlaufe von 350 Meter Länge erweitert, auf Gesamtlänge von exakt zwei Kilometern gebracht werden, um dem Delta-Konzept gerecht zu werden.

Nicht zuletzt gelang es ihm, den sportmedizinischen Betreuer zu versöhnen, der 2001 von der Absage des Magistrats schwer vergrellt gewesen war. Huber hat inzwischen zusammen mit Klaus Weiß, Christoph Weiss und Andrea Hofstetter einen neuen Leitfaden herausgebracht (G. Huber u.a.: Normalgewicht - das Deltaprinzip. Grundlagen und Module zur Planung von Kursen. Deutscher Ärzte-Verlag. Für 29,95 Euro im Buchhandel.) ,,Wichtig ist dabei eine kundige Anleitung", meint David Handschumacher. Der 25 Jahre alte Mitarbeiter von Janowicz hat nach Ausbildungen zum Physio- und Sportphysiotherapeuten eine Fortbildung zum Delta-Trainer absolviert - wie auch insgesamt sechs Mitarbeiter der Beerfeldener Praxis. Sie haben gelernt, wie man Bewegungsanreize setzt, sagt Diplom-Sportlehrer Dirk Boyens (37). Und wie sieht die Delta-Praxis aus? Die erste Runde soll zügig gegangen oder gejoggt werden, ohne an den Stationen anzuhalten. Danach wird der Puls gemessen oder ertastet, per Diagramm eine Vorgabe für das Training ermittelt.

Koordinationsübungen gehören dazu. Der Einbein-Stand wird auf Station 2 des Delta-Parcours geübt - das lässt sich leicht auch in den Alltag einbauen. Auf Station 3 nach 807 Meter Wegstrecke sollen Liegestütze und Stufensteigen absolviert werden (das kann man auch im Büro simulieren). Diverse Beweglichkeits- und Dehnübungen folgen.

Am 6. Juni soll der Delta-Parcours in Beerfelden seiner Bestimmung übergeben werden. Danach beginnt die Phase der praktischen Erfahrungen. Den Teilnehmern soll unter anderem beigebracht werden, die eigene Fitness und den wirksamen Bewegungsumfang besser einzuschätzen. Die Herzfrequenz dient dabei als wichtiger Indikator. Den organischen Zustand, vor allem die Herz-Kreislauf-Funktion, muss jeder Teilnehmer zuvor vom Arzt abchecken lassen. Zum Trainingsprogramm gehören zehn Einheiten zu je eineinhalb Stunden, was unter Betreuung durch einen Delta-Coach rund 80 Euro kosten wird. Janowicz will seine Erfahrungen mit dem Pilotprojekt den Krankenkassen vorlegen - zur Begutachtung und Prüfung, ob das Delta-Training unter Anleitung nicht als Maßnahme zur Wiedergewinnung eines gesundheitsförderlichen Normalgewichts und Beweglichkeit bezuschussungswürdig ist.

Quelle: Echo-Online vom 19.05.2010